Fleischschuld
Auch wenn dieser Raum sicherlich schon
unzählige Schreie beheimatet hat,
so sind es immer wieder die wimmernden
Laute von Kindern,
die das Grauen,
der bei der Bestrafung anwesenden Zeugen,
geistig überwuchern.
Kleine Finger umfassen vorsichtig das dreieckige,
rasierklingenscharfe Messer und treiben es in das eigene Fleisch.
Jedes Kind versucht zuerst sich schonend zu bestrafen,
doch das Gesetz fordert immer die korrekte
Einhaltung des Tributes an eigenem Fleisch.
Was zählt ist jene blutige Masse bestraften Lebens,
welches auf der Waage zu Protokoll genommen werden kann.
Schürfwunden wiegen nichts,
nur rohes Fleisch, Haut, Knochen und Fettgewebe gelten als Sühneopfer.
Je schwerer die Tat im Angesicht der Staatsgewalt,
um so tiefer muß der Delinquent die Dreieckklinge
in den eigenen Körper treiben. Die Selbstverstümmelung
ist neben unterschiedlichen Formen der Todesstrafe die einzige
Form der Sühne.
Egal ob Mann, Frau, Kind oder Greis, das Gesetz trifft jeden.
Bei Diebstahl von Lebensmitteln,
oder Konspiration ist die Fleischsühne oft so groß,
daß der Verurteilte an seinem eigenen Körper
Amputationen vornehmen muß.
Es ist schon ein bizarrer Anblick,
wenn Kinder ihre kleinen Ärmchen vom Körper abtrennen
um für ein gestohlenes Stück Brot oder eine Konserve Obst zu sühnen.
Schon so manch Zwölfjähriger mußte mit seinen
Unterschenkeln für eine unbedachte Äußerung auf dem Hof
einer Erziehungsanstalt bezahlen.
Gerechte Schreie gab es nur selten,
denn eine Schuld nachzuweisen fiel den Behörden viel leichter,
als es den Delinquenten möglich war, ihre Unschuld zu beweisen.
Die Gesellschaft wollte Sühne,
und viele Menschen genossen es sogar,
den Bestrafungen beizuwohnen.
Bei Kindern mußten die Menschen fast immer gezwungen werden,
der Tilgung der Fleischschuld beizuwohnen.
Die Menschen betrachteten lieber die blauen Bilder,
die das Grauen mundgerecht und steril frei Haus lieferten.
Und das alles in einer Gesellschaft von Vegetariern,
denn Tiere gab es seit Jahrzehnten nicht mehr.
Es war irgendwann unmöglich geworden,
mit der vorhandenen pflanzlichen Nahrung,
Mensch und Tier das Überleben zu gewährleisten.
Das Tier starb vor dem Menschen aus, wer hätte das gedacht,
doch ein Großteil der Bevölkerung trat dafür an seine Stelle.
Amputationen überlebten nur wenige Erwachsene und kaum ein Kind,
es sei denn die eigene Mutter oder ein sonstiger naher Verwandter
übernahm einen Teil der Fleischschuld,
durch Verstümmelung des eigenen Körpers.
Eine Gnade, die aber nur Kindern und Schwangeren gewährt wurde.
Letztere konnten ihre Schuld auch mit dem Fleisch
ihres ungeborenen Lebens sühnen.
Mit Schmerzen zu bezahlen?
Ein Stück Fleisch eigenhändig aus dem eigenen Körper schneiden.
Mit seinem Leib zu sühnen,
für Taten oder auch nur ausgesprochene Gedanken.
Ethisch degenerierten Kindern gehen irgendwann mit ihrem
Kollektiv zugrunde.